Der Adler

Ein Bauer fand einen jungen Adler, der aus dem Horst gefallen war. Den nahm er mit heim und steckte ihn in seinen Hühnerhof zu seinen Hennen, Enten und Gänsen.

Nach Jahren erhielt der Bauer den Besuch eines naturkundigen Mannes. Als dieser den Adler in der Erde scharrend und körnerpickend im Hühnerhof sah, fragte er den Bauern entrüstet : „Wie kannst du einen Adler, der geboren ist, um stolz durch die Lüfte zu segeln in einem Hühnerhof sperren !?“

Der Bauer antwortete : „Du hast Recht, er ist als Adler geboren. Aber ich habe ihn zu einem Huhn erzogen und so ist es jetzt kein Adler mehr, sondern ein Huhn, auch wenn seine Flügel drei Meter breit sind.“

„Nein“, sagte der naturkundige Mann, „er ist noch immer ein Adler, denn er hat das Herz eines Adlers und das wird ihn hoch hinauffliegen lassen in die Lüfte.“ „Nein, nein“, beharrte der Bauer, „er ist jetzt ein richtiges Huhn und wird niemals fliegen.“

Weil sie sich nicht einigen konnten, beschlossen sie, eine Probe zu machen. Der naturkundige Mann nahm den Adler, hob ihn in die Höhe und sprach beschwörend : „Der du ein Adler bist, der du dem Himmel gehörst und nicht dieser Erde – breite deine Schwingen aus und fliege !“

Der Adler saß auf der hochgestreckten Faust und blickte sich um. Vor sich sah er den blauen Himmel und hinter sich sah er die Hühner im Sand scharren und nach ihren Körnern picken. Da sprang er hinunter, um es nach seiner Gewohnheit ihnen gleich zu tun. Der Bauer frohlockte : „Ich habe es dir gesagt, er ist ein Huhn.“ „Nein“, sagte der naturkundige Mann, „wir versuchen es morgen noch einmal.“

Am anderen Tag stieg er mit dem Adler auf das Dach, hob ihn empor und sprach beschwörend : „Der du ein Adler bist, der du dem Himmel gehörst und nicht dieser Erde – breite deine Schwingen aus und fliege !“

Aber als der Adler wieder die scharrenden und pickenden Hühner sah, sprang er wieder zu ihnen hinunter und scharrte und pickte mit ihnen. Der Bauer frohlockte abermals : „Er ist ein Huhn und bleibt ein Huhn.“ „Nein“, sagte der naturkundige Mann wiederum, „er ist ein Adler und er hat das Herz eines Adlers. Lass es uns morgen noch ein letztes Mal versuchen - morgen wird er fliegen.“

Am nächsten Morgen erhob er sich früh, nahm den Adler und brachte ihn weit weg aus der Stadt mit seinen Häusern und Strassen auf den Gipfel eines Berges. Die Sonne ging gerade auf und sie vergoldete den Gipfel des Berges, jede Zinne erstrahlte in ihrem Glanz und der Freude dieses wundervollen Morgens. Er sprach beschwören zu dem Adler : „Adler, du bist ein Adler. Du gehörst dem Himmel und nicht der Erde. Breite deine Schwingen aus und fliege!“

Der Adler blickte umher, zitterte, als erfülle ihn neues Leben, aber er flog nicht. Da ließ ihn der naturkundige Mann direkt in die Sonne schauen. Und plötzlich breitete er seine gewaltigen Flügel aus, erhob sich mit dem Schrei eines Adlers, flog höher und höher und kehrte nie wieder zurück.

Ein Adler bleibt immer ein Adler.

Märchen aus Ghana nach James Aggrey